Melusine oder das Grasmädchen auf der Eulschirber Mühle
"Als er nun einst im Erlengebüsch bei der Mühle von Eulschirben mit Fischfang beschäftigt war, sah er ein ihm unbekanntes Grasmädchen von wunderbarer Schönheit vorübergehen und dann in der Mühle verschwinden. Auf seine Anfrage beim Müller, wer die schöne Fremde sei, erwiederte dieser, sie habe sich vor Kurzem bei ihm verdingt, jedoch mit dem Vorbehalt, daß sie von Donnerstag Abend bis Sonnabend früh im Walde leben dürfe, was er ihr gerne zugestanden, da sie in einer halben Woche so viel arbeite wie andere Mägde in einer ganzen. Diesem Geheimniß, was sie in der zweiten Hälfte der Woche triebe, mußte der Graf, der eine leidenschaftliche Liebe zu dem Mädchen gefaßt, auf die Spur kommen und so begab er sich am nächsten Donnerstag gegen Abend wiederum in die Nahe der Mühle, um das seltsame Verschwinden zu belauschen. Wirklich erschien auch das Mädchen, der Graf folgte in einiger Entfernung, plötzlich aber war die liebliche Erscheinung verschwunden, und alles fernere Suchen umsonst. Später kam es dem Grafen jedoch vor, als habe er aus dem Flusse etwas Weißes schimmern gesehen und ein Rauschen wie von einem Badenden herrührend vernommen. Damit schlossen die Ergebnisse des ersten Nachforschens. Aehnlich ging es die nächste Zeit, doch war der Graf im Verlauf derselben einige Mal in Unterhaltung mit dem Mädchen gerathen und fühlte seine Leidenschaft von Tag zu Tage wachsen. Da beschloß er endlich, seine Versuche vom entgegengesetzten Ufer der Tauber anzustellen, und siehe da! es gelang ihm wirklich, die Schöne zu sehen, wie sie sich sorgfältig auskleidete, ihre Gewande (Schwanenhemde) vorsichtig in eine Schürze wickelte und im Gebüsch versteckte, dann aber mit raschem Sprunge in das Wasser tauchte. Als sie nach einer Weile nicht erschien, entsetzte sich der Graf und wollte schon um Hülfe rufen. Da fuhr sie plötzlich wieder aus und wiegte sich in glänzendster Schönheit, eine Perlenkrone auf dem Haupt, über den vom Mond hell beschienenen Fluthen. Zugleich bemerkte der Graf aber auch, daß ihr Leib von der Hüfte an Schuppen trug und in einen Fischschwanz endete. Als die Erscheinung wieder untergetaucht, schlich der Graf, dem wohl kund, daß man sich durch ein Pfand zum Herrn solcher Wasserfrauen machen könne, an die Stelle, wo die Kleider lagen, und nahm die Schürze weg. Von jetzt an war die schöne Graserin die Geliebte des Herrn von der Gamburg, erbat sich aber von ihm tiefstes Stillschweigen über ihr Geheimniß und knüpfte daran sogar den Fortbestand ihrer Liebe. Um dieses Geheimniß besser wahren zu können, baute der Graf auf ihren Wunsch jenes räthselhafte Gebäude und verlebte dort von Niemanden gesehen und belauscht mit dem Wasserfräulein die schönsten Tage. Von Donnerstag Abend bis Sonnabend früh kehrte sie jedoch nach wie vor durch die mit der Tauber in Verbindung stehenden untern Räume des Baues in ihr natürliches Element zurück, während der Graf diese Zeit auf der Gamburg zubrachte. Aber auf die Dauer konnte das Geheimniß doch nicht verborgen bleiben; die Gräfin hegte schon lange Verdacht, und die Neugierde des Müllers, welcher aus den ihm unzugänglichen und verbotenen Räumen nicht nur liebliche Gesänge und Saitenspiel, sondern ebenso häufig Töne der aufgeregtesten Liebesleidenschaft vernahm, wuchs von Tage zu Tag. Endlich, als die Sorgfalt des Grafen im Verschluß nachgelassen, gelang es dem Vorwitzigen hineinzuschleichen und heimlich ein Paar Locher in die Thüre des Hauptgemaches zu bohren. Damit war das Geheimniß in Kurzem entdeckt. Der Müller begab sich auf der Stelle zum Abt von Bronnbach, sich Raths zu erholen, und dieser gab ihm ein mit geweihtem Wachs verklebtes Papier, welches er unter Anrufung der drei höchsten Namen auf die oberste Staffel der Treppe legen solle. So that der Müller, und als am Abend des Donnerstages das Wasserfräulein sich in’s Element zurückbegeben wollte, hörte der Müller plötzlich Jammern und Klagen in den obern Räumen, dann erfolgte ein schwerer Fall in die Tauber, und wiederum war Alles todtenstill. Das Wassermädchen war für immer verschwunden, der Graf aber wurde tiefsinnig, härmte sich ab und starb bald nachher. Die Gräfin errichtete in Eulschirben ein Klösterlein, worin sie bis an ihren Tod in Bußen und Gebeten für die Seele ihres unglücklichen Gatten gelebt hat. Kurz nach ihrem Verscheiden entstand solche Ueberschwemmung der Tauber, daß nur noch das Dach des Gebäudes hervorragte. Die Nonnen verließen daraus den Ort und übergaben den ehemaligen Sitz der Lust, der Liebe und des Gesanges dem Müller, der ihn als Mühle herrichten ließ.“
(Quelle: Burg Gamburg)